Tuesday, February 5, 2008

Fliederbeersuppe

Jagdeinladungen folge ich, wenn überhaupt, nur widerstrebend.
„Roter Schnee“ lautete diesmal das Motto. Eine Treibjagd im Winter schien
mir unkomfortabel, und schon ewig war ich nicht mehr auf der Jagd; die
Waidmannsrituale und das selbsternannte Heldentum der Zunft hatten mich
letztendlich befremdet, zum Sammler von Waffen degradiert. Allerdings, ich
wollte nicht versäumen, einen alten Freund wiederzusehen, meinen lieben
alten Freund, der mich zu meiner Überraschung eingeladen hatte.
Während der Anreise fand ich Gewissheit darüber, dass ich meine
Ungeschicklichkeit als Jäger verbergen und nicht als Schütze mitwirken
wollte. Ich hatte zwar mein zuverlässigstes Gewehr mit aufgesetztem
Zielfernrohr mit Zeiss-Optik dabei, doch ich beschloss, dass es in seinem
Futteral im Kofferraum bleiben sollte, eingeölt wie es war. Die Patronen
hatte ich einzeln in der Tasche meines Lodenmantels, und spielte mit
ihnen auf der Fahrt mit der freien Hand herum, während ich Bildern und
Erinnerungen nachhing. Seit Jahren war ich auf Automobile mit Automatic-
Getriebe umgestiegen. Die Farbe war immer noch grün.
Die Teilnehmer der Jagdgesellschaft waren aufgefordert, am Treffpunkt
vor dem alten Landgasthof Aufstellung zu nehmen und sich einteilen zu
lassen; die ohne Gewehr in die Treibergruppe, die mit Gewehr in die
der Schützen. Mein Freund sah erschreckend alt aus. Ergraut, rote Nase,
unrasiert, herunterge-kommen. Er selber befand sich als gutaussehend, so
schien es, weil er auf meinen erweiterten Körperumpfang anspielte und
sich vergleichs-weise im Vorteil wähnte. Vergebens versuchte er mich zu
überreden, mich doch noch zu den Schützen zu gesellen; ich hatte mir schon
einen kräftigen Knüttel gesucht, mit dem ich an die Bäume schlagen und
„Has, Has“ rufen wollte, wie die Bauernjungs.
Unvermittelt, als hätte ich den Aufbruch versäumt und wäre zufällig
zur Jagdgesellschaft gestoßen, fand ich mich wieder im Wald, umtrieben
vom Geruch des Bluts. Treiber schlugen an Bäume und brüllten, um das
Niederwild aufzuscheuchen, und die Jäger schossen aus allen Rohren. Ich
hatte einen Knüttel. Ich schlug. Ich schrie. Ich war Treiber.
Vom Schrot getroffen überschlugen sich die Hasen und kugelten über
den abschüssigen Hang, rote Schlieren und Spritzer auf dem weißen Grund
hinterlassend, die Augen von Empörung aufgerissen. Einer der Jung-Jäger
war so bei der Sache, dass er nicht bemerkte, dass der von ihm anvisierte
Hase die tödliche Linie überquert hatte, die Jäger und Treiber trennt. Beim
Film würde man sagen, er hatte die Achse übersprungen. Wir waren für ihn
jetzt sozusagen unscharf im Hintergrund der Schusslinie, was er aber nicht
sah oder nicht sehen wollte. Alle waren stehengeblieben und versuchten, ihn
durch warnende Rufe von seinem Tun abzuhalten.
Fliederbeersuppe
Autor: Gerrit Ahnen
Sein Vorstehhund, nicht weniger im Blutrausch als er, war so dicht
am gehetzten Hasen, dass man grade einmal eine Hand dazwischen
halten konnte. Der Junge zog mit seinem teuren Drilling nach und schoss,
ungeachtet der Gefährdung des Hundes und der Treiber, meiner Person
eingeschlossen. Getroffen kugelte der Hase wie die zwanzig, dreißig vor
ihm; sonst passierte niemandem etwas.
Der Junge mit den roten Ohren lachte dumm, als ich ihn wegen
seiner sträflichen Unachtsamkeit ermahnte. Er wisse nicht, was ich mit
Achsengesetz meine. Nun, die Verlängerung der Achse Schütze-Ziel, sagte
ich. Sie muss mindestens parallel zur Reihe der Treiber sein und keinen
Grad weniger. Aha.
Wir wurden unterbrochen durch den Ruf zur Mittagspause, zünftig
vorgetragen mit einem Waldhorn. Die vorläufige Strecke wurde vor den
Gasthof wie umgeworfene Kegel abgelegt und in Löffelchenstellung
aufgereiht, dann verblasen.
Im Landgasthof wurden Kartoffelsalat und Wienerle gereicht, dazu
gezapftes Dünnbier. Alle bestellten dasselbe, es gab auch nichts anderes.
Der Gasthof war stillos eingerichtet und darin stimmig, alles passte auf
grässliche Weise nicht zusammen. Eine bedauernswert übergewichtige
Frau brachte zunächst eine Portion heraus, dann die nächste.
Großes Gelächter, als sie irgendwann mit zwei Tellern herauskam. „Ein
Mensch entdeckt seine Hände“, scherzte mein alter Freund.
Er war von seiner jungen Tochter begleitet. Blonde Engelslocken
quollen aus der Kapuze ihres weißen Anoraks, der mit weißem
Frettchenfell appliziert war .
Ich kannte sie als Kind und staunte, wie mädchenhaft sie unterdessen
aussah. Beim Warten auf das karge Mahl ritt sie knielings auf dem Freund
und spielte Hoppe-Hoppe-Reiter mit ihm. Sie schien mir deutlich zu alt
dazu zu sein, und er auch.
Beim nächsten Durchgang der Hatz blieb ich in der Nähe, weniger, um
beim Freund zu sein, sondern mehr aus Sorge um sie, was unbegründet
blieb. Gierig wie der Vater verfolgte das schöne Kind das Treiben, und
er einen Hasen erwischt hatte, lachte sie schrill und ergötzte sich daran,
wie der Vater das zappelnde Tier hochnahm und tot machte. Er hielt den
Hasen an den Löffeln hoch und schlug ihm mit der Handkante der freien
Hand scharf ins Genick. Der Hase hörte nach dem Schlag zu zappeln auf
und machte sich ganz lang. Mein Freund nahm den Kadaver herum, hielt
ihn von sich weg und presste ihm mit beiden Händen auf den Leib, so dass
sich die Blase entleerte und die Hasenpisse im hohen Bogen tiefgelb in
den Schnee spritzte.
Das Mädchen kicherte und schaute verschämt zum Vater, in dessen
Augen jetzt die schiere Geilheit war. Vielleicht hätte er sich an Ort und
Stelle selber befriedigt, wäre er mit dem toten Hasen und der schönen
Tochter allein im Wald gewesen.
Er lud stolz die Waffe nach, während die Kleine näherkam und den
am Boden liegenden Kadaver mit Tritten traktierte, zuerst zögerlich,
schließlich ungehemmt.
Ich lehnte meinen Knüttel an einen Baum und war ging davon,
richtungslos. Hinter mir lag das Tal, auf das wir zugetrieben hatten, und
ich stellte mir vor, wie es von einer Lawine aus Blut überrollt würde. Das
scharfe Krachen der Schüsse und das sie begleitende Echo zog sich langsam
ausseinadner, und nach einer Weile konnte ich nicht mehr unterscheiden,
was Schüsse und was Echo war.
Meine Stiefel waren durchnäßt, als ich auf eine Lichtung kam, auf der an
einem kleinen Flusslauf eine Behausung stand. Es dämmerte bereits, und ich
hatte die Orientierung verloren. Das zugefrorene Flüsschen lag erstarrt in
seinen Mäandern und führte parallel zu einer kleinen Strasse am Haus vorbei.
Ich sah Licht in den Fenstern, und in der Hoffnung auf Einlass und
vielleicht einen heißen Glühwein klopfte ich an die Tür.
Eine Frau öffnete erstaunt, sah mich an,
Ihr Blick war gütig, und ein vertrautes Gefühl stieg in mir hoch, als ob ich
sie kennen würde, oder besser gesagt, schon immer gekannt hätte.
Das blonde Haar ging bereits in grau über, sie trug es zu einem Knoten
nach hinten gesteckt. Ich erklärte ihr, dass ich mich von der Treibjagd entfernt
und verlaufen hätte und fragte sie, wie ich zum Landgasthof gelangen könnte,
wo mein Auto stand.
Sie lächelte und bat mich erst einmal herein.
Ich zog mir die Stiefel aus und legte ab, dann nahm ich an einem
einfachen Holztisch Platz und wartete auf die Frau, die mich in dem
bescheidenen Zimmerchen allein gelassen hatte. Es war warm in der Stube,
so warm, dass sich die Kerzen bogen. Sie hingen wie kraftlose Schwänze
herunter, die vom eigenen Gewicht nach unten gezogen wurden.
Die Frau kam zurück und setzte mir einen Teller mit heißer
Fliederbeersuppe vor, in der Griess-Schnitzer wie elfenbeinfarbene Inselchen
schwammen, benetzt vom Rot der Beeren. Sie schaute mir zu, wie ich aß, und
bedachte mich mit gütigen Lächeln.
Anschließend plauderten wir ein wenig. Sie fragte mich, warum ich die
Jagdgesellschaft verlassen habe, worauf ich sagte, dass ich froh darüber sei,
dass ich jetzt hier bei ihr diese herrliche Mahlzeit zu mir nehmen dürfe.
Es war unterdessen völlig dunkel geworden und es schien aussichtslos, zu
dieser Stunde den Weg zurück zu finden. Sie bat mich, in einem abgewetzten
Ledersessel am Kamin Platz zu nehmen und ging in den Keller, um eine
Flasche Wein zu holen, während ich mich nützlich machte, in dem ich noch
mehr Holz aufs Feuer tat und das überhitzte Zimmer noch heisser machte.
Sie hatte trotz ihres gütigen Blicks eine strenge Art, die ihr nicht erlaubte,
von sich selbst zu reden. Allen Fragen, die sich an ihre Person richteten,
wich sie dergestalt aus, dass sie das Gespräch immer wieder auf mich
zurückbrachte, was ich in der Situation nicht bemerkte. Begeistert über ihr
Interesse berichtete ich über mich und mein unstetes Leben, und so vergingen
die Stunden, bis ich vor Müdigkeit die Augen nicht mehr offenhalten konnte.
Sie räumte ein, dass ich über Nacht bleiben könne und erlaubte mir, in
ihrem Bett zu schlafen, was ich gerne annahm. Aufgeregt tastete ich mich
in ihr Schlafzimmer und entkleidete mich in der Annahme, dass sie auch
dazu kommen würde. Es war völlig dunkel im Zimmerchen und ich spürte
die Anwesenheit einer Person im Zimmer. Ich schlüpfte ins Bett unter eine
lauschige Daunendecke und erschrak über das Quietschen des Matratze.
Dann tastete ich neben mich.
Dort lag ein Mann, der schlief.
Ich kannte ihn nicht, wußte nichts über ihn und fühlte mich von ihm
angezogen, weil er in meinem Bett schlief. Genaugenommen, weil er in
ihrem Bett schlief. Während ich lauschte, ob ich Geräusche ihres Kommens
wahrnahm, wurde ich gewahr, dass ich auch lauschte, ob und wie fest der
Mann neben mir schlief. Er schnarchte leise und ich tastete mich weiter
bis hinunter zu seinem Geschlecht. Er wurde durch meine Annäherung im
Schlafe erregt, so wie ich. Ich steckte schließlich meinen Kopf unter seine
Bettdecke und überließ mich meinen Gelüsten.
Am nächsten Morgen erwachte ich zeitig, jedoch nicht zeitig genug,
um den Mann noch zu sehen, der nachts neben mir gelegen hatte, und dem
gegenüber ich mich so vergessen hatte, dass ich mich wie ein Einbrecher
und Räuber benommen hatte.
Ich traf die gütige Frau nicht mehr an in der Stube; sie war, wie auch
der Mann, verschwunden. Der schlichte Tisch war mit üppigem Frühstück
gedeckt; es gab alle Arten von Flocken, verschiedene Quarkspeisen und
eingemachtes Obst.
Neben einem tiefen Teller, der vermutlich in abgewaschenem
Zustand derselbe vom vergangenen Abend war, lag ein Zettel mit der
Wegebeschreibung zum Landgasthof und zu meinem Auto. Es stand ein
lieber Gruß darunter und ein Hinweis, dass es die Frau gefreut habe, mit mir
den Abend zu verbringen. Daneben lag ein weiterer Zettel. „Mein Lieber. Es
freut mich sehr, dass du noch zu deinem Jagderfolg gelangt bist. Bis bald.
Dein alter Freund.“
Gerrit Ahnen